“Der Küstenatlas” – ein Buch für Fans der Nordseeküste?
Endlich komme ich dazu ein paar Worte über ein Buch zu schreiben, dass den zunächst einmal unscheinbaren Namen “Der Küstenatlas”* trägt. Ich bin sowohl ein großer Freund von Atlanten als auch vom Meer. Insofern lag es für mich sehr nahe mir dieses Buch genauer anzusehen.
Eigentlich handelt es sich nicht um einen richtigen Atlas. Es gibt zwar viele Karten, aber nicht so viele, wie man vielleicht erwarten würde. Aber vor allem ist es ein archäologisches Buch. Noch ein großer Pluspunkt aus meiner Sicht.
Es geht um die Entstehung und Geschichte der Küstenregionen der Nordsee. Der Schwerpunkt liegt auf dem Gebiet der deutschen Bucht, das im Mittelalter unter dem Namen “Uthlande” bekannt war. Kurz gesagt, es geht um einen der berühmtesten “Lost Places” überhaupt: Rungholt.
- Meier, Kühn, Borger: Der Küstenatlas.
- Ein Blick ins Buch. Nicht ganz so viele Karten, wie erwartet.
- Eine Rekonstruktion der “Uthlande” vor den großen Sturmfluten. Bild: Wikipedia
Genau, die sagenhafte Stadt, die in der “Groten Mandränke” im Jahr 1362 untergegangen sein soll. Detlev von Liliencron hat dem Ereignis in seiner berühmten Ballade “Trutz, Blanke Hans” ein Denkmal gesetzt (vielleicht sollte ich dazu noch erwähnen, dass ich auch ein großer Freund von Balladen bin). Das Gedicht kenne ich schon lange und als Kind spielte Rungholt für mich in derselben Liga wie Atlantis. Eine Sage halt…
Irgendwann erfuhr ich dann aber, dass Rungholt tatsächlich existiert hat und wirklich während einer Sturmflut zerstört wurde. Ich konnte mir aber nie vorstellen, dass eine Stadt wie ein Schiff “untergehen” könnte.
Genau das behandelt der Küstenatlas. Die Autoren sind Dirk Meier, Hans Joachim Kühn und Guus J. Borger. Diese Namen werden wahrscheinlich nur bei wenigen Menschen einen “Ach-so, die”-Effekt auslösen (pardon dafür). Meier und Kühn sind Archäologen (Ur- und Frühgeschichtler), Borger ist Professor für Soziale und Historische Geografie. Küstenforschung ist ihr Spezialgebiet, insofern durfte ich einiges erwarten und wurde nicht enttäuscht.
Sie erklären die Entstehung der Nordsee nach der letzten Eiszeit und die allmähliche Veränderung der Küstenlinien durch den ansteigenden Meeresspiegel. Aus dem gesamten Wattenmeer sind archäologische Funde von der Stein- bis in die Neuzeit bekannt. Aus dem nordfriesischen Watt zwischen Sylt und Eiderstedt gibt es eine besonders große Zahl von Siedlungsspuren aus dem Mittelalter, denn diese Gegend war damals dicht besiedelt.
Im Wattenmeer vor Husum lag früher die Insel Strand, auch Alter Strand genannt. Und hier gab es tatsächlich ein Ort namens Rungholt. Der Küstenatlas erklärt anschaulich, wie diese Siedlung während der sogenannten “Zweiten Marcellusflut” im Januar 1362 zerstört wurde. Damals wurde dort tiefgründig Land weggespült, so dass die Menschen von Rungholt im wahrsten Sinne den Boden unter den Füßen verloren. Dort, wo sich heute die Norderhever befindet, der tiefe Prielstrom zwischen den Inseln Pellworm und Nordstrand, lag Rungholt. Irgendwo in der Nähe der Hallig Südfall. Nach dieser Sturmflut bleib eine hufeisenförmige Insel zurück.
In der Burchardiflut 1634, der zweiten “Groten Mandränke”, wurde die alte Insel dann komplett durchbrochen. Übrig blieben Pellworm und Nordstrand, das heute noch den Namen der alten Insel trägt.
- Der Rest der Insel Strand nach der Sturmflut 1634. Die überfluteten Bereiche sind schraffiert. Karte von J. Mejer, 1651.
- Pflugspuren im Watt nördlich von Pellworm. Foto: Google Earth
- Reste des Dorfes Bupsee nördlich von Pellworm, dass 1634 zertört wurde. Foto: Google Earth
- Nordfriesland heute. Östlich von Pellworm die Rinne der Norderhever. Bild: OpenStreetMap
Aber nicht nur Rungholt wurde durch Sturmfluten zerstört. Auf Strand existierten dutzende Dörfer und Höfe, die im Laufe der Jahrhunderte überschwemmt und zerstört wurden.
Der Küstenatlas stellt den aktuellen Forschungsstand der Rungholtarchäologie vor (so wird dieser Bereich der Küstenforschung oft genannt). Das ist spannend für jeden Archäologen, der sich für das Thema interessiert. Für fachfremde Leser ist es manchmal vielleicht schon etwas zu wissenschaftlich. Dann sind die vielen Karten aber doch wieder hilfreich.
Außerhalb von Bibliotheken kann ich mir den Küstenatlas am besten auf dem Lesetisch eines Hotels an der Nordsee vorstellen. Wer gerade von einer fachkundig geführten Wattwanderung zurückgekommen ist, wird mit Sicherheit gerne darin stöbern, um etwas mehr über die merkwürdigen Reste alter Dörfer zu erfahren, die er im Watt gesehen hat.
Und schon wieder habe ich ein neues Reiseziel gefunden… mit Wattwanderung!
*Dirk Meier, Hans Joachim Kühn, Guus J. Borger: Der Küstenatlas. Das schleswig-holsteinische Wattenmeer in Vergangenheit und Gegenwart; Boyens Verlag, Heide, 2013
Zum Schluss hier noch Liliencrons Ballade in voller Länge:
Trutz Blanke Hans
Heut bin ich über Rungholt gefahren
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen dort wild und empört,
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans!
Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
Liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
Der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
Trutz, Blanke Hans.
Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
Ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
Die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen
Und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Trutz, Blanke Hans.
Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
Die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein,
Und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
Viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans.
Rungholt ist reich und wird immer reicher,
Kein Korn mehr fasst selbst der größteste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom,
Staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, Blanke Hans.
Auf allen Märkten, auf allen Gassen
Lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehen am Abend hinaus auf den Deich:
Wir trotzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich!
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
Zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.
Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
Der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
Und lächelt der protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegens Riffen
Das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
Trutz, Blanke Hans.
Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
Das Scheusal wälzte sich, atmete tief,
Und schloss die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
Kommen wie rasende Rosse geflogen.
Trutz, Blanke Hans.
Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans?
Wem nach diesem ganzen Text die Leserei zu viel geworden ist, kann sich in der ZDF Mediathek die TerraX-Folge “Atlantis der Nordsee” ansehen. Diese Doku basiert im Wesentlichen auf den Inhalten des Küstenatlas und die Autoren kommen in Interviews auch zu Wort.
Vier Jahre danach … Danke für den tollen Buchtipp! Mini-Nörgelei: Im Gedicht fehlt in der vorletzten Zeile der ersten Strophe ein Wort. 😉
Die “Wasser” habe ich ergänzt. Auch danke für den Hinweis.